Jüdisches Leben in Deutschland reicht bis in die Zeit des Römischen Reiches zurück. In diesem Jahr würdigt das Land das jahrhundertealte Erbe mit unzähligen Veranstaltungen und Feierlichkeiten, die sowohl zurück als auch in die Zukunft blicken.
Die erste dokumentierte Anwesenheit von Juden nördlich der Alpen geht auf das Jahr 321 n. Chr. zurück, als der römische Kaiser Konstantin ein Dekret erließ, das es Juden ermöglichte, Mitglieder des Kölner Rats zu sein. Die Dokumente werden heute im Archiv des Vatikans aufbewahrt.
Anlässlich des 1.700-jährigen Jubiläums des Edikts hat der Verein 321-2021: 1.700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland gemeinsam mit der Bundesregierung beschlossen, das Ereignis mit vielen Projekten und Festlichkeiten zu würdigen.
Eine überwältigende Übung
Im Gespräch mit der DW über das vergangene Jahr sagte Andrey Kovacs, Geschäftsführer des Vereins, seine Gruppe sei überwältigt und dankbar für die Teilnahme von Vertretern der Zivilgesellschaft und der Politik, da die daraus resultierende Anzahl von Veranstaltungen die ursprünglichen Erwartungen bei weitem übertroffen habe.
„Wir hatten über 840 Projektpartner in allen 16 Staaten“, erklärte er. „Das hat uns wirklich überwältigt. Und dann gab es auch Projekte, die ohne Förderung stattfanden und nicht in der Statistik auftauchten. Dazu gehörten auch Veranstaltungen in über 20 Auslandsvertretungen der Bundesregierung, denn auch das Auswärtige Amt beteiligte sich an den Feierlichkeiten“, so Kovac sagte. “Es wurde das wohl größte deutsche Kulturfest der Nachkriegszeit.”
Insgesamt wurden weit über 2.400 Veranstaltungen in ganz Deutschland durchgeführt. Dazu gehörten Ausstellungen jüdischer Fundstücke aus dem Mittelalter im Rahmen des Projekts „Shared History“ und die Feierlichkeiten zum jüdischen Laubhüttenfest „Sukkot XXL“ in 13 Städten in ganz Deutschland.
Laut Kovacs spielte die Feier von Festen wie Sukkot und anderen kleineren Veranstaltungen eine äußerst wichtige Rolle, um den Menschen das jüdische Leben näher zu bringen.
„Ja, es waren die kleinen Veranstaltungen abseits der großen Städte. Das war schon etwas ganz Besonderes, weil sich dort viele Menschen zum ersten Mal mit dem jüdischen Leben in Deutschland heute und mit unterschiedlichen jüdischen Perspektiven in der Gegenwart auseinandergesetzt haben“, sagte Kovacs.
Ein Bewusstsein für jüdisches Leben
Im nordrhein-westfälischen Münsterland beispielsweise organisierten Mitglieder des Landesverbandes LWL ein Projekt, bei dem Kinder und Jugendliche in der Region nach Spuren jüdischen Lebens suchten und diese dokumentierten.
Die Idee des Projekts „Jüdisch hier“ war es, den Teilnehmern die jahrhundertelange jüdisch-deutsche Geschichte bewusst zu machen, indem sie das Leben jüdischer Mitglieder in ihren Städten nachzeichneten.
Bei einer solchen Recherche verfolgten Studierende das Leben von Nana Kahn, die 1910 geboren wurde und 1929 in Attendorn ihr Abitur machte. Sie erstellten eine Karte ihres damaligen Aufenthaltsortes und dokumentierten ihr Leben in Texten.
Benutzer können jetzt auf Nana Kahns Geschichte zugreifen, indem sie sich bei einer Bildungs-App namens BIPARCOURS anmelden, und herausfinden, wie sie aussah, wann sie geboren wurde und welche Schule sie besuchte.
Die App zeigt den Nutzern auch, wie sie den Weg zu Kahns Schule in Attendorn geografisch verfolgen können, beschreibt Hitlers Antisemitengesetze und führt sie schließlich zu einer Gedenktafel für Juden, die aus der Gegend in Konzentrationslager deportiert wurden.
„Mit anderen Worten, [die Idee des Projekts war], sich bewusst zu machen, dass dort jüdische Menschen lebten und dass es auch positive Momente in der jüdischen Geschichte, in der jüdisch-deutschen Geschichte gab und nicht nur negative Erfahrungen. Und das war sehr spannend “, sagte Kovacs.
Raum für eine neue Identität
Der Leiter des Vereins 1.700 Jahre jüdisches Leben ist derweil zufrieden mit dem Verlauf des Gedenkjahres. Die Feierlichkeiten eröffneten nicht nur neue Perspektiven auf Juden in Deutschland, sondern seien eine Entdeckungsreise sowohl für Nichtjuden als auch für “jüdische Menschen, die ihre eigene Identität in der deutschen Gesellschaft verorten wollten”, fügte Kovacs hinzu.
Es gebe aber noch einige Herausforderungen zu bewältigen, sagt die Aktivistin.
„In meiner jüdischen Heimat war es in meiner Jugend so, dass man an eine Zukunft in Deutschland nicht denken konnte. Das hat sich geändert und die Feierlichkeiten haben das gezeigt“, erklärt er und verdeutlicht, dass es ein neues Selbstverständnis gibt, mit dem man sich auseinandersetzt Junge Menschen wollen in einer modernen, zukunftsorientierten Gesellschaft wahrgenommen und vor allem respektiert werden. Und das ist eine Chance für Veränderung, aber sie braucht Raum, um zu wachsen.”
Die zweite Herausforderung bestehe darin, die Erinnerung an die Shoah oder den Holocaust am Leben zu erhalten, wenn man bedenke, dass es nur noch wenige Überlebende gebe, sagte er.
„Der dritte Aspekt ist das Erstarken von Antisemitismus und Verschwörungstheorien, die sowohl im Ausland, etwa in Russland, als auch in Deutschland wieder sichtbar werden“, fügte Kovacs hinzu. “Man muss sich nur die Diskussion um die Documenta anschauen”, sagt Kovacs und verweist auf die Kunstausstellung, auf der immer wieder antisemitische Kunstwerke aufgetaucht sind und in der deutschen Kultur und Politik für erhebliche Kontroversen gesorgt haben.
Für die Zukunft plant er ein jüdisches Musikfestival namens „Shalom Cologne“ und hat auch ein europaweites Projekt in der Pipeline.
Vor allem aber habe das Gedenkjahr Juden und jüdischen Vereinen in Deutschland Mut gemacht, herauszutreten und ihre Religion zu feiern. Und Kovacs hofft, dass es so weitergeht.